„Es geht auch um Menschlichkeit“ – Eine syrische Zahnärztin über ihre Arbeit in einer mobilen Zahnklinik der Grünhelme

Karies, Zähne ziehen und Wurzelfüllungen: Mehr als 100.000 Behandlungen haben die drei mobilen Zahnarztpraxen der Grünhelme seit 2016 durchgeführt. Doch bei dieser Arbeit geht es um viel mehr! Das berichtet die Zahnärztin Wafaa im Interview.  

Von Yvonne Neudeck

Bonn, 11. Oktober 2025 Wafaa, zu dir kommen täglich viele Kinder, Erwachsene und ältere Menschen mit Zahnschmerzen in unsere „Praxis auf Rädern“. In welchem Zustand befinden sich die Zähne deiner Patientinnen und Patienten?

Leider befinden sich die Zähne der meisten Patienten in einem fortgeschrittenen Stadium der notwendigen Behandlung, sie haben Abszesse, Parodontitis und Wurzelkanalentzündungen. Viele Patienten waren über längere Zeiträume stark auf Schmerzmittel angewiesen, weil sie keinen Zugang zu den privaten, kostenpflichtigen Kliniken haben.

Dieses Problem beobachten wir in allen vier Zentren, die wir anfahren und versorgen. Jedes Zentrum umfasst jeweils mehr als sechs Camps mit einer Bevölkerung von etwa 100.000 Menschen. Unsere Klinik behandelt durchschnittlich 25 Patienten pro Tag.
Wir sind die einzige mobile Zahnklinik in der Region, und die Entfernung zur nächsten Privatklinik beträgt mehr als 30 Kilometer, was den Transport erschwert. Der Mangel an Fachkliniken und Zahnärzten vor Ort lässt die zeitnahe Behandlung oft nicht zu und so werden aus relativ einfachen Problemen schwere Erkrankungen wie Infektionen und Wurzelerkrankungen.

Darüber hinaus mangelt es den meisten Familien an finanziellen Mitteln und vielen Lebensgrundlagen. Sie leben fast alle in den Geflüchtetencamps, oft fehlt ein, manchmal sogar beide Elternteile.

Wie wirkt sich das Leben in den Camps auf die Zahngesundheit aus?

Alle Patienten, die die Klinik besuchen, sind Vertriebene, die gezwungen waren, ihre Heimatstädte und -dörfer während des Krieges zu verlassen. Das Leben in den Camps stellt die Menschen vor große Herausforderungen. Der begrenzte Zugang zu Zahnbürsten und Zahnpasta führt zu schlechter Mundhygiene, auch ist oft sauberes Wasser knapp. All dies führt zu unregelmäßiger Zahnreinigung, was wiederum Zahnbelag, Karies und Zahnfleischerkrankungen auslöst.

Auch ernähren sich die die Bewohner gezwungenermaßen oft sehr unausgewogen. Wichtige Nährstoffe für die Mundgesundheit wie Kalzium und Vitamin D fehlen. Die Verbreitung billiger, zucker- und kohlenhydratreicher Lebensmittel erhöht das Risiko für Karies, insbesondere bei Kindern.

Vielen Menschen ist die Bedeutung der Mund- und Zahnpflege nicht bewusst, was zu schlechten Gewohnheiten wie unregelmäßigem Zähneputzen oder dem Vermeiden von Zahnarztbesuchen führt, wenn diese notwendig wären. Zudem führt der durch Krieg und Vertreibung verursachte psychische Stress oft dazu, dass Menschen ihre allgemeine Gesundheit, einschließlich ihrer Mundgesundheit, vernachlässigen.

In welcher psychischen Verfassung befinden sich die Menschen, wenn sie sich in Behandlung begeben? Ist das Leben in den Camps für sie zur Normalität geworden?

Die Bewohner sind oft mit schwierigen und vielfältigen psychischen Problemen konfrontiert, wie Angstzuständen, Stress, Depressionen und Traumata, die durch die harten Lebensumstände verursacht werden. Diese sind auf Vertreibung, den Verlust von Angehörigen und der gewohnten Heimat, Instabilität und begrenzte Ressourcen zurückzuführen.

Die Menschen haben sich an ihre schwierigen Lebensumstände angepasst, aber die Herausforderungen bleiben bestehen, darunter mangelnde Gesundheitsversorgung und Bildungsangebote, Verlust der Privatsphäre und allgemeine Unsicherheit.
Wir bemühen uns sehr, die schwierigen Lebensumstände unserer Patienten zu berücksichtigen. Mit den Zahnarztmobilen können wir zu den Camps fahren, so müssen die Menschen keine weiten Wege zu uns zurücklegen. Auch dürfen sie ihre Familien und Freunde mitbringen, damit auch diese von den Leistungen profitieren.

Gibt es eine Geschichte über einen Patienten oder eine Patientin, die dich besonders berührt hat und die du mit uns teilen möchtest?

Jeden Tag begegnen wir Menschen und erfahren Geschichten, die uns tief berühren. Eine Geschichte, die mich besonders bewegt hat, ist die eines elfjährigen Mädchens. Sie kam eines Tages mit ihrem Vater in die Klinik, weil ihr ein Zahn gezogen werden musste. Das Mädchen wirkte verängstigt und nervös. Ich versuchte mein Bestes, um sie zu beruhigen und ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Ich bemühte mich, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem ich sanft über Themen sprach, die ihr Spaß machten, und vermied dabei sorgfältig, Schmerzen oder die Behandlung zu erwähnen.

Während unseres Gesprächs sagte ihr Vater: „Meine Tochter ist sehr stark; seit dem Tod ihrer Mutter kümmert sie sich um ihre jüngeren Geschwister.“ In diesem Moment spürte ich die Last der Verantwortung, die dieses junge Mädchen auf ihren Schultern trug. Wie konnte eine Elfjährige die Rolle einer Mutter für ihre Geschwister übernehmen und gleichzeitig mit ihren eigenen Ängsten und Schmerzen fertig werden?
Trotz ihrer Angst kooperierte sie mit bemerkenswerter Entschlossenheit und wollte die Behandlung unbedingt hinter sich bringen. Als wir fertig waren, bedankte sie sich mit einem schüchternen Lächeln, das ihre innere Stärke bestätigte.

Dieses Mädchen war mehr als nur eine Patientin; sie wurde zu einer Lektion für mich und uns alle. Sie lehrte mich, dass Mut nicht die Abwesenheit von Angst ist, sondern die Fähigkeit, trotz überwältigender Herausforderungen durchzuhalten. Geschichten wie ihre erinnern mich an den Wert meiner Arbeit und daran, wie wichtig es ist, vor der körperlichen Behandlung emotionale Unterstützung zu bieten.

Auch erinnere ich mich an eine ältere Frau, die in Begleitung ihres vierjährigen Enkels zu mir kam. Sie litt unter schweren Zahnproblemen und benötigte dringend eine Behandlung. Als ich mit der Behandlung begann, fiel mir auf, wie still sie die Schmerzen ertrug, als trüge sie eine Last, die weit über ihre körperlichen Beschwerden hinausging. Nachdem ich fertig war, sah sie mich mit hoffnungsvollen Augen an und sagte Worte, die ich nie vergessen werde: „Bitte kümmern Sie sich um meinen Enkel, er ist ein Waisenkind … Ich bin alles, was er hat.“
Diese Worte trafen mich im Innersten. Ich sah in ihren Augen die Sorge, die Liebe und die Angst um die Zukunft dieses kleinen Jungen, der seine Eltern verloren hatte. Trotz ihrer schwierigen Lebensumstände steckte sie all ihre Energie und Fürsorge in seine Erziehung.

Diese Begegnungen führen mir vor Augen, dass ich nicht nur zahnärztliche Versorgung leiste, sondern auch dazu beitrage, das Leiden von Menschen zu lindern, die mit unglaublicher Geduld die Lasten des Lebens ertragen. Die Botschaft dieser älteren Frau inspiriert mich jeden Tag aufs Neue, meine Arbeit mit Mitgefühl und Menschlichkeit fortzusetzen.

Was bedeutet es für dich, für die Grünhelme in der mobilen Klinik zu arbeiten?

Die Arbeit in der mobilen Zahnklinik ist mehr als nur ein Beruf, sie ist eine humanitäre Mission und eine einzigartige Lebenserfahrung. Jedes Mal, wenn ich in die Camps und ländlichen Gebiete reise, habe ich das Gefühl, dass ich den Menschen, die dringend Hilfe benötigen, näher komme – nicht nur, um ihre körperlichen Schmerzen zu lindern, sondern auch, um ihnen angesichts ihrer schwierigen Lebensumstände psychologische Unterstützung zu bieten.

Diese Arbeit lehrt mich täglich, dass es in der Medizin nicht nur um Instrumente und Behandlungen geht, sondern auch darum, Vertrauen aufzubauen, Hoffnung zu verbreiten und tiefe menschliche Beziehungen zu schaffen. Ich sehe jeden Patienten als eine Gelegenheit, etwas Positives zu bewirken und einen Teil der Menschlichkeit wiederherzustellen, die inmitten von Krieg und Vertreibung nur allzu oft verloren ging.

Für mich bedeutet die mobile Klinik, meine Komfortzone zu verlassen und mich der Realität mit all ihren Herausforderungen zu stellen. Sie erinnert mich immer daran, dass es in der Medizin im Kern darum geht, anderen zu dienen, insbesondere denen, die keinen einfachen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben.

Diese Arbeit hat mich als Person verändert; sie hat mir Geduld, Stärke und Mitgefühl beigebracht und mir gezeigt, wie wichtig es ist, zu geben, egal unter welchen Umständen. Jedes Lächeln, das ich auf dem Gesicht eines Patienten sehe, und jedes aufrichtige Dankeschön, das ich höre, bedeutet mir unendlich viel.

Wie ist deine persönliche und familiäre Situation?

Ich bin Mutter einer dreijährigen Tochter, von meinem Mann getrennt und lebe derzeit bei meiner Familie.

13 Jahre Krieg haben mein Leben tief geprägt, nicht nur als Zahnärztin, sondern auch als Mensch. Ich habe diese Erfahrung in all ihren Details durchlebt: Vertreibung, Angst, den Kampf ums Überleben. Während meines Medizinstudiums waren die Straßen gesperrt und gefährlich, und ich musste viele Jahre lang von meiner Familie getrennt leben, was mein Gefühl der Isolation und meinen psychischen Druck noch verstärkte.

Aber diese Schwierigkeiten haben mich nicht gebrochen, sondern meine Persönlichkeit geprägt und mich stärker und entschlossener gemacht. Ich habe gelernt, auch unter schwierigsten Umständen meinen Weg zu finden. Jeder Tag war ein Kampf, um trotz der Herausforderungen mein Studium und meine Arbeit fortzusetzen. Die Angst vor Gefahren gehörte zu meinem Alltag, aber ich habe gelernt, damit zu leben und sie zu überwinden, um mein Ziel zu erreichen. Diese Erfahrung hat mich empathischer gemacht und in meiner Entschlossenheit bestärkt, Hilfe anzubieten, weil ich die Bedeutung von Schmerz und Leid voll und ganz verstehe.

Was sind deine Hoffnungen für die Zukunft?

Für mein Land wünsche ich mir, dass es seine Stärke zurückgewinnt, wieder aufblüht und sich aus den Trümmern erhebt. Ich hoffe, dass es zu einem Ort der Stabilität wird, an dem Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen und jeder die Möglichkeit hat, zum Wiederaufbau beizutragen. Jeder Tag, an dem ich arbeite und ein bisschen dazu beitrage, das Leid anderer zu lindern, ist ein kleiner Schritt in Richtung dieses großen Traums.

Die Fragen stellte Yvonne Neudeck, Projektleiterin für die Zahnarztmobile.

Über das Projekt:

Die rollende Zahnkliniken versorgen Binnenvertriebene in Syrien im Großraum Aleppo mit kostenlosen Zahnarztbehandlungen. Die Mobile sind seit 2016, 2019 und 2023 unterwegs und teilweise selbst von uns umgerüstet. Die laufenden Kosten finanzieren wir Grünhelme komplett aus Spenden. Durchgeführt und vor Ort organisiert wird die Arbeit durch unsere Partnerorganisation „Independent Doctors Association“.  In diesem Sommer konnten wir die unglaubliche Marke von 100.000 Behandlungen erreichen!

Mehr über unsere Arbeit in Syrien:

2025-10-12T09:24:16+02:00

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