Nach Hause

Dreizehn Jahre nach der Flucht vor den Bomben Assads können unsere syrischen Freundinnen und Freunde, die im libanesischen Aarsal Zuflucht gefunden hatten, wieder zurück in ihren Heimatort. Wir haben sie dort besucht – und bereiten erste Projekte zum Wiederaufbau vor.

Besuch in Buwaydah vor Abu Feyrous‘ Haus

Von Simon Bethlehem

Bonn, 18.01.2025 – „Ahlan wa sahlan“, ruft Abu Feyrous, als wir aus dem Auto aussteigen – herzlich willkommen. In Buwaydah steht kaum noch ein Stein auf dem anderen. Zerstörung so weit das Auge reicht: eingeknickte Betonstützen, verbogener Armierungsstahl, heruntergestürzte Betondecken, zerbrochene Zementsteine. Und doch strahlt Abu Feyrous über das ganze Gesicht, als er uns durch sein Dorf führt.

Fast dreizehn Jahre konnte er nicht hier sein, hatte weder sein Haus noch die Olivenbäume gesehen. Und auch, wenn sein Haus nur noch ein Schutthaufen ist, ist die Erleichterung wieder zuhause zu sein, sehr viel größer als die Traurigkeit über die Zerstörung und die Ungewissheit über die Zukunft.

Al-Buwaydah al-Sharqiyahwar war mal ein Ort mit rund 8.000 Menschen. Er liegt etwa 20 Kilometer südlich von Homs, unweit der Hauptverbindungsstraße nach Al-Qusseir. Als im April 2011 die Proteste gegen das Assad-Regime begannen, war Al-Qusseir einer der ersten Orte im Land, die sich beteiligten, auch im nur sieben Kilometer entfernten Buwaydah regte sich ziviler Widerstand.

Nachdem die regimetreue syrische Armee im November desselben Jahres Al-Qusseir eingenommen hatte, begann ab Februar 2012 der bewaffnete Widerstand durch Einwohner*innen der Stadt, die sich der Freien Syrischen Armee angeschlossen (FSA) hatten. Monatelang wurde erbittert um Al-Qusseir und auch Buwaydah gekämpft, ehe die Orte vollends unter die Kontrolle der syrischen Armee und der libanesischen Hisbollah gerieten. Buwaydah wurde daraufhin komplett geräumt und die Hisbollah errichtete hier einen Stützpunkt. Unterdessen machte sich die syrische Armee an die Zerstörung der Häuser: Mit Bulldozern attackierte sie systematisch die Betonstützen der Häuser und brachte so die Gebäude zum Einsturz.

Auf der Flucht

Abu Feyrous floh mit seiner Familie, wie viele andere auch. Zunächst suchten sie Zuflucht in den nicht weit entfernten Qalamoun-Bergen an der syrisch-libanesischen Grenze. Als es 2013 nach einem Angriff der syrischen Armee auch dort zu gefährlich wurde, zogen sie weiter ins libanesische Aarsal.

Hier lernten wir Abu Feyrous‘ Familie und viele weitere Menschen aus Buwaydah 2017 kennen, als wir ihr Camp Wadi Swed winterfest machten. In der Folge wurden die Bewohner von Wadi Swed zu unseren Mitarbeitern: Sie halfen uns dabei zahlreiche Camps auf den Winter vorzubereiten, bauten neue Elektrik in die 10.000 Zelte in Aarsal ein, errichteten Klassenräume für informelle syrische und staatliche libanesische Schulen. Einige von ihnen absolvierten auch die Ausbildung in unserer „Tischlern-For-Future“-Werkstatt.

Heimisch wurden die Menschen aus Buwaydah in Aarsal jedoch nie. Das Leben in den Zelten, das Fehlen von schulischen und beruflichen Perspektiven, sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder, dazu die oftmals ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, die ständige Angst vor den Übergriffen durch libanesische Soldaten und die völlige Rechtlosigkeit im Libanon ließen die syrischen Geflüchteten Aarsal mit einer Mischung aus Verachtung und Zynismus betrachten.

Vom ersten Tag an wollten sie so schnell wie möglich zurück in die Heimat. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre – und auch als 2021 die Rückkehr, nach der Freigabe durch die syrische Armee theoretisch wieder möglich war, scheuten viele den Schritt in das weiterhin von Assad beherrschte Land zurückzukehren, aus Angst vor Vergeltung, dem Einzug ins Militär und der wirtschaftlichen Aussichtslosigkeit.

Bleiben oder zurückkehren?

Als das Milizenbündnis Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) Ende November 2024 ihren Vormarsch auf Aleppo startete und binnen kürzester Zeit das Assad-Regime zu Fall brachte, war die Euphorie der Aarsal-Geflüchteten riesig. Zugleich stellte sich die Frage: Bleiben oder zurückkehren?

In Aarsal hatte man sich eingerichtet, hier gab es die Zelte, die schon zahlreiche Winter überstanden hatten. Hier gab es Diesel für die Öfen, eine stabile Lebensmittelversorgung, immerhin geringe Zahlungen der Vereinten Nationen und einigermaßen funktionierende Schulen. Auch wenn die Armut groß war, weil kaum einer eine feste Beschäftigung hatte, so würde die Rückkehr nach Syrien Ungewissheit bedeuten: Wo soll man leben, wenn alles zerstört ist, wie wird die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten sein, können unsere Kinder zur Schule gehen, gibt es bezahlte Arbeit, hält der Frieden?

In der syrischen Community in Aarsal gehen die Meinungen dazu auseinander. Während die Menschen aus den Qalamoun-Bergen größtenteils bereits zurückgegangen sind, da dort nur wenige Dörfer zerstört sind, warten viele Menschen aus der Region Homs (zu der auch Al-Qusseir und Buwaydah gehören) noch ab und wollen zumindest in Aarsal überwintern.

Die Menschen aus dem Camp Wadi Swed hingegen haben Aarsal den Rücken gekehrt. Kurz zuvor waren bei einer abermaligen Razzia der libanesischen Armee in Wadi Swed mehrere Männer verhaftet und misshandelt worden. Zudem drängte der Besitzer des Grundstücks, auf dem das Camp errichtet wurde, auf die Abreise und zusätzliche Zahlungen.

Leben in Zelten, nun auch in Buwaydah

Zurück Zuhause

Die Menschen, die schon 2021 nach Buwaydah zurückgekehrt waren, hatten die Straßen bereits vom Schutt befreit, Stromleitungen verlegt und sich in kleinen Schritten wieder Häuser gebaut. Auch heute sind es noch eher Rohbauten, aber sie bieten Schutz vor dem Wetter des Winters. Am Ortseingang stehen auch noch zwei alte Häuser. Sie wurden vor der Zerstörung bewahrt, weil hier die Hisbollah-Soldaten gehaust hatten.

Eines dieser Häuser gehört dem Onkel von Sammi, Abu Feyrous‘ Frau. Hier hat die Familie ein Zimmer bezogen, das ganz ähnlich eingerichtet ist, wie zuvor das Zelt in Wadi Swed: ein Teppich, in der Mitte ein Dieselofen, an den Seiten Matten zum Sitzen. Sammi lädt uns zu einem kleinen Mittagessen mit Brot, Rührei, Gurken und Joghurt ein. Wir trinken Tee und Kaffee, lassen uns von den ersten Erfahrungen und Begegnungen nach der Rückkehr erzählen.

Abu Feyrous und Sammi sind glücklich wieder zurück zu sein, künftig wieder selbstbestimmt leben zu können. Ihnen ist der Kraftakt bewusst, den es von ihnen, vom Dorf, vom ganzen Land braucht, um hier wieder ein schönes Leben zu führen zu können, und dass dies Jahre dauern wird. Aber sie strotzen vor Tatendrang und Vorfreude auf das neue, alte Leben.

Mahlzeit bei Abu Feyrous und Sammi | Leen (links) und Sara

Sarah und Leen sind die beiden jüngsten Töchter. Sie waren zwei und drei Jahre alt, als die Familie Buwaydah verlassen hatte, und haben keine Erinnerungen an die Vorkriegszeit in Syrien. Für die beiden 15- und 16-Jährigen bedeutet das Leben in Buwaydah nicht die Rückkehr nach Hause, sondern ein Hinausgerissenwerden aus einem gewohnten Umfeld, wo sie ihre Freundinnen hatten und eine libanesische Schule besuchen konnten. Mit Buwaydah verbinden sie nichts, außer die Erzählungen und Sehnsüchte der Eltern. Diese hatten sie zum Teil adaptiert, finden sich nun aber in einem völlig zerstörten Ort wieder, der wenig mit den Verheißungen zu tun hat, die über Jahre aufgebaut wurden. Hier gibt es nur wenige Stunden Strom am Tag, kein stabiles Internet, nicht die Lebendigkeit die Aarsal hatte. Sie vermissen Aarsal, auch weil ihre Eltern die vielen Härten und Sorgen dort zumeist von ihnen ferngehalten hatten. Sie strahlen nicht diese Freude aus, sondern sind enttäuscht und resigniert – sie sind noch auf der Suche nach ihrem Platz in Buwaydah.

Abu Abdu, der ebenfalls in Aarsal für uns gearbeitet hatte, steht mit ausgebreiteten Armen vor seinem kaputten Haus, auch er lächelt. Immer wenn wir abends in Wadi Swed in der verrauchten Hütte des Campvorstehers Abu Abdullah zusammengesessen hatten, hatte Abu Abdu gefragt: „Was meinst du, wann können wir zurück nach Hause?“ Natürlich hatten wir darauf keine Antwort. Während viele andere Syrerinnen und Syrer schon nicht mehr an eine Rückkehr geglaubt hatten, blieb Abu Abdu optimistisch. „Boukra ahla!“, sagte er immer, morgen wird alles besser sein.

Abu Abdullah war der Shawish, der Campvorsteher in Wadi Swed, verantwortlich für das Zusammenleben der 38 Familien in den 59 Zelten. Er führte die Verhandlungen mit dem Landbesitzer, sprach mit Hilfsorganisationen, nahm an den Treffen der Campvorsteher teil und schlichtete Streit im Camp. Als ich ihn vor seinem zerstörten Haus treffe und etwas provokant frage, ob er nun auch der Shawish in Buwaydah sei, winkt er mit einem Lachen ab: Am selben Tag als Assad Syrien verlassen habe, habe auch er seinen Hut genommen – elf Jahre seien genug gewesen.

Zerstörte Infrastruktur

Auch die Infrastruktur in Buwaydah muss erst wieder aufgebaut werden. Oberirdische Stromleitungen liegen bereits, die Hauptverkehrsstraße ist vom Schutt befreit und befahrbar, auch Wasseranschlüsse gibt es im Ort.

Das Schulgebäude der Grundschule (Klasse 1-6) ist von der Struktur erhalten geblieben. Seit 2022 läuft der Unterricht wieder in ein paar wenigen Räumen, die notdürftig dafür hergerichtet wurden. Auch die Mittelschule (Klasse 7-9) hat in dem Gebäude Platz gefunden. Seit dem Sturz Assads und der Rückkehr vieler Familien nach Buwaydah aber reicht der Platz nicht mehr und auch Schulbänke fehlen. Die Zahl der 150 Kinder hat sich mehr als verdoppelt und wird in den nächsten Monaten weiter steigen.

Das eigentliche Gebäude der Mittelschule ist verwaist. Zwar ist auch dieses von größeren Zerstörungen verschont geblieben, allerdings fehlen alle Fenster und Türen, Farbe und Putz bröckelt von den Wänden. Die Toiletten sind zum Teil herausgerissen. Der Schulleiter möchte mit den drei Jahrgangsstufen so schnell wie möglich hierher zurückkehren, auch um in der Grundschule Platz für weitere Klassen zu schaffen. Außerdem wird auch die Zahl der Schüler*innen der Mittelschule rasant steigen, da Bawaydah ein zentraler Standort der weiterführenden Schule für zwölf umliegende Orte ist.

Das lokale Ärztehaus ist komplett zerstört. Vor dem Krieg waren hier ein Allgemeinmediziner, eine Frauenärztin und ein Zahnarzt ansässig. Für die medizinische Versorgung müssen die Menschen derzeit in die Provinzhauptstadt Homs fahren, wo die Kapazitäten bereits stark überlastet sind. Für den Bürgermeister von Buwaydah hat der Wiederaufbau des Ärztehauses höchste Priorität.

Renovierungsbedürftige Mittelschule von Buwaydah

Erste Grünhelme-Projekte geplant

Wir Grünhelme möchten nun in einem ersten Schritt die Klassenräume der Mittelschule wieder herrichten. Mit dem Bau von Schulbänken für die Grund- und Mittelschule haben wir bereits begonnen. Dafür können wir auf unser eingespieltes Aarsal-Team um Abu Feyrous zurückgreifen, das die Bänke schweißen und die Klassenräume renovieren wird. So können wir schon in den nächsten Monaten zusätzliche Klassenräume bereitstellen und dazu beitragen, dass alle Kinder in Buwaydah zur Schule gehen können. Positiver Nebeneffekt: Wir schaffen dringend benötigte Jobs. Mit ihrem Verdienst können sich die Familien unserer Mitarbeiter an den Wideraufbau ihrer privaten Häuser machen.

Als Anschlussprojekt haben wir den Wiederaufbau des Ärztehauses ins Auge gefasst. Hierfür sollen in den nächsten Wochen und Monaten Gespräche mit den zuständigen Gesundheitsbehörden geführt werden.

Für uns ist es eine Herzensangelegenheit, die Menschen in Buwaydah beim Wiederaufbau ihres Ortes zu unterstützen. Viele von ihnen haben wir über die letzten sieben Jahre begleitet und eine enge Beziehung aufgebaut. Abu Feyrous und seine Familie seien hier nur stellvertretend genannt für die vielen anderen, mit denen wir in Aarsal gearbeitet und gelebt haben. Für die Umsetzung der Wiederaufbauprojekte sind wir dringend auf Spenden angewiesen. So können wir einen kleinen Beitrag leisten, dass eines wahr wird: „Boukra ahla“ – morgen wird es besser sein.

Nothilfe in Nordwestsyrien

Nach Hause

Von |18. Januar 2025|

Dreizehn Jahre nach der Flucht vor den Bomben Assads können unsere syrischen Freundinnen und Freunde, die im libanesischen Aarsal Zuflucht gefunden hatten, wieder zurück in ihren Heimatort. Wir haben sie dort besucht – und bereiten erste Projekte zum Wiederaufbau vor.

2025-01-19T12:57:19+01:00

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