Projektleiter Tobias Lange hatte die Gelegenheit, unsere Zahnarztmobile in Nordwest-Syrien zu besuchen. Unser Fazit: Dieses Projekt muss auch 2023 unbedingt weitergehen.
Von unserem Projektleiter Tobias Lange
Gaziantep, 31.Oktober 2022 – In Zusammenarbeit mit dem Verein „Niehler Freiheit“ haben die Grünhelme 2016 und 2019 einen Verkaufswagen und ein Wohnmobil zu mobilen Zahnarztkliniken umgebaut, ausgestattet und nach Nordwest-Syrien gebracht. Weil für uns aus Sicherheitsgründen eine Arbeit in Syrien bislang nie in Frage kam, betreut die Zahnarztmobile unsere Partnerorganisation Independent Doctors Association (IDA). Der Betrieb wird durch Grünhelme-Spenden finanziert.
Wie wichtig dieses Projekt für die Region im Nordwesten Syriens ist, konnte ich bei meinem Besuch im September vor Ort erfahren. Zunächst sei die geografische Lage erklärt: Das Gebiet, in dem unsere Zahnarztmobile im Einsatz sind, liegt im Norden und Westen von Aleppo. Rund 4,5 Millionen Menschen leben hier, zwischen der türkischen Grenzmauer im Norden und dem Assad Regime im Süden.
Nach Angaben der UN-Organisation OCHA sind 4,1 Millionen von ihnen – also 90 Prozent –auf Hilfe angewiesen. Sie sind Binnenvertriebene, geflohen vor Krieg und Verfolgung, und leiden zusätzlich unter Lebensmittelknappheit und einer schweren Wirtschaftskrise. Dies macht einen Arztbesuch für die meisten Menschen unerschwinglich.
Nach dreitägigem Warten in Gaziantep, wo IDA seinen Sitz hat, erhalten wir die Genehmigung für den Grenzübertritt nach Syrien. Mich begleiten bei meinem Besuch Feras Fares (Programmleiter) und Kinan Khattab (stellvertretender Generaldirektor für Programme) von IDA. Die Ärzteorganisation betreibt in Syrien ein Krankenhaus direkt an der Grenze zur Türkei sowie mehrere Gesundheitsstationen in Vertriebenen-Camps.
Die beiden Zahnarztmobile sind laut IDA das einzige kostenlose zahnmedizinische Angebot im gesamten Nordwesten Syriens entlang der türkischen Grenze. Ansonsten gebe es nur private, kostenpflichtige Praxen.
Unser erstes Ziel ist das Bab Al Iman Camp, in dem rund 15.000 Menschen leben. Hier, vor dem Primary Healthcare Center von IDA, parkt an diesem Tag eines unser Zahnarztmobile. Das Healthcare-Center bietet allgemeinmedizinische Versorgung und eine Apotheke, in unserem Mobil wiederum praktiziert ein Zahnarzt.
Als ich die Stufen zum Mobil betrete, begrüßt mich Haifa Hassan, eine kleine fröhliche Frau, die schon seit fünf Jahren als Zahnarztassistentin für uns in der mobilen Klinik arbeitet. Sie bittet mich herein, im Wagen ist Dr. Basil Orfali gerade mit der Behandlung einer Wurzelentzündung und einem dadurch entstandenen Abszess beschäftigt.
So mancher Zahn ist nicht mehr zu retten
Die Patientin Amuna Hilal hat heute ihre zweite von voraussichtlich fünf Behandlungen. Im Gespräch erzählt mir Amuna, dass sie weit weg in einem der vielen inoffiziellen Camps lebt. Da es keinen öffentlichen Nahverkehr gibt, hat sie mit ihrem Zahnarztbesuch so lange gewartet, bis sie die Schmerzen nicht mehr ertragen hat. Jetzt endlich kann sie sich hier behandeln lassen, kostenlos. Welch eine Erleichterung für sie.
Dr. Basil Orfali, der schon seit 2016 unser praktizierender Zahnarzt ist, erzählt mir, dass es leider keine Seltenheit ist, dass Patientinnen und Patienten lange warten, bis sie zu ihm kommen. Häufig nehmen die Menschen Schmerztabletten, um ihr Leiden zu ertragen. So mancher Zahn kann – nach Jahren ohne Kontrolltermine oder Behandlung – nicht mehr gerettet werden.
>> Karies im Krieg: Dr. Orfali berichtet über seine Arbeit als Zahnarzt in Syrien (Artikel aus 2021)
Die Terminvergabe verläuft sehr strukturiert und professionell. Im Healthcare Center nebenan müssen sich Patient*innen mit ihren Daten anmelden, eine Mitarbeiterin erfasst sie im Computersystem und teilt ihnen eine Uhrzeit zu, sodass die Menschen nicht den ganzen Tag vor dem Mobil warten müssen. Doch wegen der enorm hohen Nachfrage ist es nicht selten, dass ein Teil der Menschen nicht am gleichen Tag behandelt werden kann.
Einzugsgebiet von mindestens 100.000 Menschen
Unsere beiden Zahnarztmobile rotieren derzeit zwischen fünf Vertriebenen-Camps, im zweiwöchigen Rhythmus. Allein in diesen offiziellen Camps leben mehr als 100.000 Menschen. Hinzu kommen die vielen inoffiziellen Camps und Siedlungen rundherum, sodass das Einzugsgebiet deutlich größer ist – wie auch das Beispiel von Amuna Hilal zeigt.
Mit Dr. Basil Orfali diskutiere ich die Option, mehr Camps anzufahren. Doch dies ist wegen der schlechten Straßenverhältnisse in Nordwestsyrien und des daraus resultierenden noch stärkeren Verschleißes der Zahnarztmobile kaum praktikabel. Außerdem ginge mit noch häufigeren Standortwechseln wertvolle Zeit für Behandlungen verloren.
Auch in unserem zweiten Mobil, das an diesem Tag im Camp Shmarekh praktiziert, berichten mir Dr. Sahlol und sein Assistent Ali Kaddaji von einer hohen Nachfrage. Teilweise kämen über 70 Patienten an einem Tag. Sie sagen, sie könnten allerdings höchstens 25 bis 30 Personen pro Tag behandeln. Rund die Hälfte der Patientinnen und Patienten sind in der Regel Kinder und Jugendliche.
Dr. Sahlol, der seit 2019 in unserem zweiten Mobil praktiziert, bereitet gerade eine Wurzelkanalfüllung vor. Er sagt, er sei sehr zufrieden mit der Ausstattung der mobilen Klinik. Das Material oder neue Technik werden in der Türkei eingekauft oder repariert. Die „Independant Doctors Association“ pflegt ein gutes Verhältnis zu den türkischen Behörden, die den Grenzübergang kontrollieren.
Am Ende meines Besuches bei den Zahnarztmobilen in Syrien bin ich überzeugt: Hier ist jeder einzelne Cent sehr gut angelegt! Die beiden Zahnärzte und ihre medizinischen Assistent*innen geben jeden Tag ihr Bestes, um trotz der widrigen Umstände vor Ort allen Patientinnen und Patienten ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern – mit gesunden Zähnen.