Der Libanon leidet nicht nur unter der Corona-Pandemie, sondern vor allem unter dem Unwillen und der Unfähigkeit seiner Regierung, im Sinne der Allgemeinheit zu handeln. Die syrischen Geflüchteten dienen seit Jahren als Sündenböcke. Jetzt betrifft sich die Regierung sogar gegen die Kinder – und will informelle syrische Schulen schließen. Das könnte weitreichende Folgen haben.
Aarsal ist Corona noch immer nicht angekommen, zumindest offiziell nicht. Das Quarantäne-Zentrum, das wir im Frühjahr gebaut haben, um Infizierte isolieren zu können, wird derzeit nicht gebraucht. Gut so, nicht auszudenken, wenn die Pandemie durch die engen Camps ziehen würde, in denen Abstandhalten unmöglich ist und in denen gerade jetzt im Herbst mit zunehmendem Regen und Kälte ohnehin viele Menschen gesundheitlich angeschlagen sind. Doch Corona ist hier kein Schreckgespenst, seine Existenz wird achselzuckend zur Kenntnis genommen – „wir haben ganz andere Probleme“, ist der Tenor.
Tatsächlich schlägt die große libanesische Krise, die als Wirtschaftskrise begann und die mit der Explosion in Beirut ihren Höhepunkt erreichte, auch bis ins abgelegene Aarsal durch. Der Arbeitsmarkt, auf dem sich die Syrer*innen ohnehin nur illegal verdingen können, ist wie leergefegt. Die Nachfrage nach dem Gestein aus den berühmten Aarsal-Steinbrüchen, das in die gesamte arabische Welt exportiert wird, hat merklich nachgelassen. Denn die Baubranche steht still. Obst und Gemüse gibt es zu dieser Jahreszeit auch nicht zu ernten. Hier warten also auch keine Jobs.
Obendrein galoppiert die Inflation weiter. Brot, Strom, Wasser, Medikamente – alles ist teurer geworden, manches kostet heute gar das Sechsfache von vor einem Jahr. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat dennoch seine monatlichen Auszahlungen an die Geflüchteten noch immer nicht angepasst. Weiterhin werden die 27 US-Dollar pro Person zum alten Wechselkurs ausgezahlt. Die Menschen, die sich ohnehin seit neun Jahren im permanenten Krisenmodus leben, müssen sich also noch weiter einschränken, auch beim Essen.
Auch vielen Libanes*innen geht es schlecht. Auch unter ihnen wächst die Arbeitslosigkeit, der Hunger, die Verzweiflung. Diejenigen, die es können, verlassen das Land. Die politische Elite, die den Libanon durch eine Politik der Selbstbereicherung und Klientelwirtschaft erst in diese Lage gebracht hat, hetzt unterdessen weiter gegen die syrischen Geflüchteten und reduziert den Spielraum für die Menschen, irgendwie ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der neueste Angriff zielt auf die Kinder. Die Regierung hat beschlossen, alle informellen syrischen Schulen schließen zu lassen. Diese Schulen wurden häufig in Eigeninitiative von syrischen Lehrer*innen gegründet für Kinder ohne Platz an einer öffentlichen Schule. Auch wir Grünhelme haben einige dieser informellen Schulen mit Baumaßnahmen in den vergangenen Jahren unterstützt.
Vielerorts wird die geplante Schließung dieser Schulen keine Auswirkungen haben, da syrische Kinder bereits die libanesischen Schulen besuchen dürfen – in einer separaten Schicht und somit getrennt von libanesischen Kindern. In Aarsal aber, wo noch immer bis zu 10.000 Schulplätze für syrische Kinder auf diesen Schulen fehlen, bedeutet die Entscheidung der Regierung für viele syrische Kinder die Ausgrenzung von jeglicher Bildung.
Schon lange laufen Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), auch die privaten libanesischen Schulen für syrische Kinder zu öffnen, doch eine Lösung ist weiterhin nicht in Sicht. Immer wieder wird vermutet, dass die Regierung auch nicht wirklich an einer Lösung interessiert ist und die Kinder als Druckmittel nutzen möchte. Die perverse Rechnung zielt offenbar darauf, dass Eltern aus Sorge vor der Perspektivlosigkeit ihrer Kinder lieber wieder zurück ins gefährliche Syrien gehen. Die berühmte Wahl zwischen Pest und Cholera! Das Bildungszentrum unseres Partners SB Overseas, das wir finanziell seit einiger Zeit unterstützen, ist von den Schulschließungen glücklicherweise nicht betroffen. Es gilt nämlich offiziell als Bildungszentrum und nicht als informelle Schule.
Wir lassen uns nicht entmutigen von all den Schikanen. Wir haben in den vergangenen Monaten 14 Camps mit mehr als eintausend Familien mit neuer Elektrik ausgestattet, um die Gefahr von Bränden durch marode Kabel zu reduzieren. Daneben haben wir wieder den Fensterbau fokussiert, um mehr Licht und Frischluft in die Zelte zu bringen. Letzteres ist wichtig, um die Schimmelbildung in den Zelten zu verhindern. Darüber hinaus haben wir für eine öffentliche Schule im Libanon 90 neue Schulbänke gebaut. Diese neue Schule, die vormals eine Privatschule war, nimmt nun vormittags libanesische Kinder und nachmittags syrische Kinder auf. Die Schule war umgewandelt worden, weil aufgrund der Wirtschaftskrise immer mehr libanesische Eltern ihre Kinder von den kostenpflichtigen Privatschulen auf öffentliche Schulen schicken. Die libanesische Regierung hat diese Umwandlung zwar genehmigt, sich bei der Ausstattung jedoch vollständig aus der Verantwortung genommen.
Doch es gibt auch schöne Nachrichten. Unser Vorarbeiter und Übersetzer Abu Feyrous ist Opa geworden: Seine Tochter hat einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Wir wünschen der Familie Gesundheit und dass Yussef seine Heimat bald als ein befriedetes Land kennenlernen kann.