Am 4. August explodierten im Hafen von Beirut mehrere Tonnen Ammoniumnitrat. Wir haben in den ersten Wochen unbürokatische, pragmatische Nothilfe geleistet. Ein Resümee.
Auch gut einen Monat nach der riesigen Explosion in Beirut ist von einer einkehrenden Normalität in der Hauptstadt wenig zu spüren. Zwar laufen die Aufräumarbeiten in den Straßen der betroffenen Stadtteile auf Hochtouren, viele Wohnungen sind aber nach wie vor unbewohnbar. Die wohlhabenderen Beirutis haben sich in ihre Häuser und Wohnungen in den Bergen zurückgezogen, diejenigen, die diese Möglichkeit nicht haben, sind bei Verwandten und Bekannten untergekommen – oder sie verweilen in ihren Wohnungen ohne Fenster und Türen, mit zerbrochenen Fensterscheiben, zerstörten Möbeln.
Wir haben in den vergangenen vier Wochen versucht, dem ein wenig Abhilfe zu schaffen. 350 neue Fenster und über 100 neue Eingangs- und Balkontüren hat unser Team in Wohnungen eingebaut, außerdem haben wir zahlreiche Fenster repariert und neu verglast. Somit konnten wir zumindest für einige Familien ihre Wohnräume wieder bewohnbar machen und für den bevorstehenden Winter aufbereiten. Es ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, bei tausenden betroffenen Wohnungen und Räumen, aber für die Familien, denen wir kurzfristig und unbürokratisch helfen konnten, macht es einen großen Unterschied.
Den Stadtteil Karantina, der im Norden und Westen an den Beiruter Hafen grenzt, hat es besonders stark getroffen. In diesem Viertel haben wir unsere Werkstatt errichtet, erst auf einem zentralen Platz neben dem zerstörten Krankenhaus, später auf dem Gelände der Stadtverwaltung, die uns – dankbar über unsere Arbeit – eine Halle samt Strom- und Wasserversorgung zur Verfügung gestellt hat. In Karantina leben die sogenannten einfachen Leute. Also nicht diejenigen mit den großen SUVs, den engen Verbindungen zu den einflussreichen Familien, sondern eben jene, die das ausbaden müssen, was die Eliten dem Land seit Jahrzehnten antun. Das bedeutet: massive Korruption und Vetternwirtschaft, unzureichende Strom- und Trinkwasserversorgung, Müllentsorgung im Meer und sogar die Lagerung von hochexplosivem Ammoniumnitrat in der Nähe von Wohngebieten, was letztlich zu dieser Katastrophe geführt hat.
Jamal ist einer der Bewohner von Karantina. Er wohnt im Erdgeschoss eines Hauses, das direkt an den Platz angrenzt, wo wir zu Beginn unser Werkstattzelt aufgestellt hatten. Er ist Ende Dreißig und gerade zum zweiten Mal Vater geworden. Eigentlich arbeitet er, wie so viele in Karantina, im Hafen. Aufgrund der Wirtschaftskrise aber nur noch unregelmäßig. Sein reales Gehalt ist durch die wenige Arbeit und die hohe Inflation auf ein Fünftel zusammengeschrumpft, erzählt er. Während der Explosion stand er direkt hinter der Fensterscheibe seines Wohnzimmers. Heute ist sein ganzer Oberkörper von vernarbten Schnittwunden übersät. Jamal, dem das Haus gehört, in dem außerdem noch die Familie seines Bruders, zwei syrische Familien und ein libanesischer Junggeselle wohnen, war einer der ersten, der neue Fenster und eine Eingangstür für seine Wohnung von uns bekam. Er war so begeistert, dass er uns fortan seinen Stromanschluss zur Verfügung stellte und regelmäßig Kaffee für das ganze Team kochte.
Mahmud ist ein anderer Karantinianer. Er ist Syrer aus Hama und war vor acht Jahren der Gewalt in seiner Heimat entflohen. Erst vor kurzem ist er mit seiner Frau und den zwei Kindern ins Viertel gezogen. Bis wenige Wochen vor der Explosion hatte er noch im Hafenviertel gewohnt und ist nun heilfroh, von dort weggezogen zu sein. Wäre er noch da gewesen, wäre er vermutlich nicht mit ein paar Schnittwunden davongekommen. Sein altes Haus liegt in Trümmern. Trotz dieses Glücks im Unglück gibt er zu Bedenken, dass er ja gerade vor den Bomben in Syrien geflohen sei und ihm nun auch hier alles um die Ohren fliege.
Tony hat mehr als zwanzig Jahre in Deutschland gelebt. Später hat er beim Goethe-Institut in Damaskus gearbeitet und ist anschließend wieder in sein Heimatland Libanon zurückgekehrt. Die deutsche Staatsbürgerschaft habe er versäumt zu beantragen, weshalb er nun nicht mehr zurück könne. Außerdem sei er spielsüchtig gewesen, was sein ganzes Erspartes weggefressen habe. Während wir in seiner kleinen Wohnung neue Fenster einbauen, redet er wie ein Wasserfall, sichtlich froh, endlich mal wieder deutsch sprechen zu können. Auch er arbeitet im Hafen als selbstständiger Zähler, der beim Löschen der Ladungen die Güter dokumentiert. Schon vor der Explosion seien nur noch wenige Schiffe gekommen. Dem libanesischen Staat fehlten die Devisen, um die Importe zu bezahlen. Jetzt, da ein Teil des Hafens zerstört ist, rechnet Tony mit weiteren Rückgängen, sodass er sehen muss, wie er künftig über die Runden kommt. Er spricht viel über Deutschland und seine beiden Schwestern, die dort leben. Regelmäßig telefoniere er mit seinem fünfjährigen Neffen, der ebenfalls Tony heiße, und den er so gern wiedersehen würde. Er bekomme aber kein Visa für Deutschland.
Yasmin ist eine junge Libanesin Ende Zwanzig. Sie hat einen Universitätsabschluss in Buchhaltung und spricht neben Arabisch auch fließend Englisch und Französisch. Sie lebt mit ihrer Mutter in einem tollen alten Haus im ersten Stock. Das Interieur ist im klassischen arabischen Stil gehalten: Dunkle Holzmöbel, geschwunge Sofas entlang der Wände und verzierte Kaffeeservis. Die alten gezapften Holzfenster hatte es zum Teil samt Rahmen aus der Wand gesprengt. Ihre Mutter stammt aus Syrien, ihr im vergangenen Jahr verstorbener Vater war Libanese. Sie selbst zählt zu der jungen, verlorenen libanesischen Generation: Gut ausgebildet, aber aufgrund der Vetternwirtschaft und Korruption, nun auch zusätzlich wegen der katastrohalen wirtschaftlichen Situation, ohne Zukunftsperspektive. Sie sagt: „Du musst zu einer der einflussreichen Familien gehören, um an einen gutbezahlten Job zu kommen. Oder zumindest jemanden kennen. Eigentlich bleibt meiner Generation nur die Auswanderung. Hier gibt es keine Zukunft für uns.“ Dabei sitzt ihre Mutter auf einem der Sofas, reicht Kaffee und Plätzchen und interessiert sich sehr für unsere syrischen Mitarbeiter und ihre Geschichten aus der gemeinsamen Heimat.
Diese Aufmerksamkeit und der Respekt ist für unsere Jungs nicht selbstverständlich. Als syrische Geflüchtete und dann noch aus dem „Terrornest“ Aarsal werden sie von vielen Libanes*innen mit großer Skepsis betrachtet. Dabei war es für Tamam, Yezin, Abudi, Abdulkarim, Omar und Amjad keine Frage, sich direkt nach der Explosion gemeinsam mit uns auf den Weg zu machen und mit anzupacken. Und das für eine Gesellschaft und einen Staat, von dem sie bisher fast nur Ablehnung, Ausgrenzung und Repression erfahren haben. Sie waren direkt zur Stelle und ohne Umschweife bereit, sieben Tage die Woche, von morgens sechs bis abends um sieben, bei Temperaturen von bis zu 40 Grad Hitze zu malochen. Und es hat sie sogar ein bisschen stolz gemacht.
Selbst als sie für Leute wie Haji gearbeitet haben. Ein alter Libanese, jenseits der 75, der mit seiner Frau in einem alten Haus lebt, das auch schon vor der Explosion dem Verfall nahe war. Yezin und Tamam hatten vier neue Fenster bei ihm eingebaut, außerdem eine neue Eingangstür. Doch Haji reichte dies nicht. Er wollte obendrein zusätzliche Fenstergriffe und Zimmertüren. Tag für Tag stand er an unserem Werkstattzelt und trug seine Forderungen vehement vor. Nach abermaliger Ablehnung mit dem Hinweis, dass wir ein Notfallteam seien, auf das noch viele andere Familien dringend warteten, warf er unseren Jungs an den Kopf, dass sie, nachdem sie ihr eigenes Land zerstört hätten nun auch auch noch den Libanon zerstören würden.
Auch wenn dieser offene Rassismus unserem Team während unserer Arbeit in Beirut eher selten begegnet ist, so ist er doch in unterschwelliger Form allgegenwärtig. Die syrischen Geflüchteten bleiben die Fußabtreter der Gesellschaft. Die Politik, allen voran die rechte christliche Freie Patriotische Bewegung von Präsident Michel Aoun und dem ehemaligen Außenminister Gebran Bassil, aber auch die schiitischen Parteien Hisbollah und Al-Amal, haben dieses Mantra den Libanes*innen eingeimpft. Auch heute noch werden sie zu den Sündenböcken für die vielen Krisen im Land gemacht. Dabei ist es offensichtlich, dass die politischen Eliten ein strahlendes Land heruntergewirtschaftet haben. Es wurde zu einem Land, in dem weder Verkehr noch Müllentsorgung, weder Strom- noch Trinkwasserversorgung funktionieren. Eine Regierung, die bei dem Kampf gegen Corona versagt und der es auch nicht gelingt, die Hilfen nach der Explosion zu koordinieren. Es herrscht ein großes Chaos in Beirut. Sozialministerium, Hilfsorganisationen und die Armee stehen sich gegenseitig auf den Füßen, während die um Kooperation bemühte Stadtverwaltung hilflos zusehen muss, wie die übrigen Mitspieler sich gegenseitig behindern und ausstechen.
Für uns Grünhelme war der Punkt zum Ausstieg aus diesem Koordinationschaos erreicht, als eine große amerikanische Hilfsorganisation einzelne von uns eingebaute Fenster gegen andere auszutaschen, um die eigenen Planziele zu erreichen. Wir sind sehr froh, 125 Familien eine schnelle Hilfe geboten haben zu können, doch die mangelnde Kooperationsbereitschaft und Koordinationsfähigkeit zeigt uns, dass wir hier aus Verantwortung gegenüber den Spendengeldern einen Schlussstrich ziehen müssen. So legen wir ab nächster Woche wieder unsere ganze Anstrengung auf die syrischen Geflüchteten in Aarsal. Neben den Elektroarbeiten zum Brandschutz in den Camps werden wir auch dort nun wieder vermehrt Fenster bauen, um die Zelte der syrischen Familien besser durchlüften zu können.
Ein großes Dankeschön an unsere Partner*innen vor Ort, Edinburg Direct Aid, SB Overseas und People in Need Slovakia. Und in besonderer Weise natürlich allen Spender*innen, die unsere Arbeit in Beirut und Aarsal unterstützt haben und weiter unterstützen.