Der Winter neigt sich dem Ende, doch eine Verbesserung für die syrischen Geflüchteten im Libanon ist weiterhin nicht in Sicht. Die Grünhelme setzten sich nun verstärkt im Bereich Bildung und Ausbildung ein.
Bis zu achtzig Zentimeter Neuschnee fielen in manchen Nächten des Januar und Februar auf das nordostlibanesische Städtchen Aarsal. Hier, in Sichtweite zur syrischen Grenze, leben noch immer mehr als 50.000 syrische Geflüchtete über den ganzen Ort verteilt. Der Winter ist die härtest Zeit für diese Menschen, denen ihre Heimat vor Augen, aber doch so fern ist. Die Wände der kleinen Behausungen bestehen aus nicht mehr als Plastikplanen, manchmal eine, manchmal viele – der Kälte von teilweise minus Zwölf Grad können sie nichts entgegen setzen. Das Wasser in den außenliegenden Tanks gefriert und im Inneren der Zelte, Baracken oder wie auch immer diese Unterkünfte genannt werden sollen, kämpfen stinkende Dieselöfen gegen die Kälte an.
Das Leben der meisten dieser Geflüchteten spielt sich seit sieben Jahren in diesem Elend ab. Sie kommen überwiegend aus der Provinz Homs, andere aus den Kalamoun-Bergen, direkt hinter der Grenze. Geflohen vor der Gewalt im syrischen Bürgerkrieg, vor einem wütenden Diktator, der alle zu Feinden erklärte, die seinem Terrorregime nicht weiter folgen wollten – besonders die sunnitischen Muslime. Für viele war es eine Flucht über mehrere Etappen: Von Homs nach Qussair, von dort weiter in die Kalamoun-Berge, bevor es auch dort zu unsicher wurde. Der Sprung über die Grenze in den Libanon war der einzige Ausweg, und Aarsal liegt direkt hinter der Grenze. Anfangs lebten die Menschen noch in den zahlreichen leerstehenden Zimmern und Wohnungen des Ortes. Sie brachten Geld mit und konnten sich die Mieten leisten. Ohnehin war man sich sicher, dass nach sechs Monaten alles vorbei sei. Noch heute ist die zynische Bemerkung geläufig, dass die sechs Monate nun schon ganz schön lange andauern.
Mit der Zeit waren auch die Ersparnisse aufgebraucht und die Menschen gezwungen, sich in Gruppen zusammenzuschließen, gemeinsam ein Stück Land anzupachten und darauf die neuen Behausungen zu errichten. Auf manchen Grundstücken sind es nur eine Handvoll Zelte, auf anderen fast dreihundert. Fast zweihundert dieser kleinen Siedlungen gibt es über Aarsal verstreut. Hier schreitet das Leben voran: Familien werden gegründet, Kinder geboren, Menschen sterben. Es gibt Streit zwischen Nachbarn, Freundschaften entstehen und Solidarität. Die Menschen eint ihr Schicksal der Vertreibung, doch zugleich sind sie gezwungen miteinander zu konkurrieren, um Arbeit und die Gunst der Hilfsorganisationen.
Anders als in den UN-Camps in Jordanien oder im Irak, gibt es in Aarsal keine organisierte Versorgung der Geflüchteten. Die Menschen müssen selbst schauen, wie sie ihre Familien ernähren. Zwar ist etwa die Hälfe der Syrer*innen in Aarsal bei den Vereinten Nationen registriert, doch als der Andrang zur Registrierung zu groß wurde, wurde das Registrierungsbüro eilig geschlossen, sodass nun ein großer Teil der Menschen von den UN-Hilfsleistungen ausgeschlossen ist. Private Organisationen springen in die Bresche und verteilen Lebensmittel, Heizdiesel, dünne Dämmung für die Zeltwände, Trinkwasser, Decken oder Kleidung. Auch wir Grünhelme sind hier aktiv. Doch nicht bei der Bereitstellung von Gütern, sondern in der technischen Unterstützung: Wir arbeiten an den Unterkünften, um das Leben der Menschen in ihnen sicherer und angenehmer zu gestalten. So verstärken wir die Dächer, tauschen das tragende Holzständerwerk aus, um Einstürze durch die Schneemassen zu verhindern, und bauen Entwässerungen, damit Regenwasser nicht vom Boden aus in die „Zelte“ eindringt.
Genau an diesem Punkt aber hakt der libanesische Staat ein, dessen Ziel es ist, die schutzbedürftigen Menschen so schnell wie möglich loszuwerden. Mit einem immer weiterreichenden Bündel an Restriktionen zielen die staatlichen Institutionen auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Menschen – auf dem Arbeitsmarkt, bei der Schulbildung der syrischen Kinder, bei der medizinischen Versorgung und eben bei den Unterkünften.
Wurden zunächst nur weitergehende Baumaßnahmen untersagt, ist der Staat im vergangenen Sommer dazu übergegangen Unterkünfte einzureißen oder mit deren Abriss zu drohen, falls die Bewohner*innen sie nicht selbst auf das Minimalste zurückbauen, also Holz und Plastikplane (mehr informationen dazu hier). Jeder andere Werkstoff, insbesondere Steine, Beton oder Dachbleche wurden verboten. Die meisten Menschen beugten sich dem Damoklesschwert der Regierung und rissen ihre eigenen Unterkünfte ein, andere wurden tatsächlich vom Militär zerstört. Im Winter waren die betroffenen Menschen nun umso schutzloser den Launen des Wetters ausgesetzt.
Verstärkt wird die katastrophale Situation der syrischen Menschen noch durch die libanesische Staats- und Wirtschaftskrise. Gern werden die Syrer*innen als Sündenböcke herangezogen für eine am Boden liegende Wirtschaft, die durch die jahrzehntelange Plünderung des Staates durch die herrschenden Familien des Landes versucht wurde. Fanatische Agitatoren wie der Parteichef der größten christlichen Partei und ehemalige Außenminister Gebran Basil oder Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, die nicht nur die alte Regierung unter Saad Hariri kontrollierten, sondern auch die neue Marionettenregierung Hassan Diabs lenken, machen die syrischen Geflüchteten für alles Unheil verantwortlich, um vom eigenen Versagen abzulenken. Die Folge sind Arbeitsverbote, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit bis hin zu progromähnlichen Angriffen auf syrische Geschäfte und auch Unterkünfte.
Unterdressen trifft die Wirtschaftskrise die Geflüchteten mit voller Wucht: Der Arbeitsmarkt in Aarsal, der ohnehin für sie nur die schweren und schmutzigen schlechtbezahlten Schattenjobs vorgesehen hatte, ist leergefegt. Gleichzeitig frisst die grassierende Inflation das wenige auf, das die Menschen zusammenkratzen können. Die Preise für Güter des täglichen Bedarfs, wie Brot, Wasser, Heizdiesel, Obst und Gemüse steigen rapide. Und auch die Vereinten Nationen beteiligen sich an diesem Desaster: Die 27 US-Dollar, die jedem registrierten Geflüchteten monatlich zustehen, werden weiterhin zum alten Wechselkurs von 1.500 Libanesischen Pfund ausgezahlt, wodurch ihr Realwert um 40 Prozent schrumpft. Trotz dieser misslichen Lage bleibt eine Rückkehr für den überwiegenden Teil der Menschen ausgeschlossen, solange das Assad-Regime an der Macht klebt. Zu groß ist die Angst.
Bildung ist zukunftsorientiert und kann deshalb auch Hoffnung ausstrahlen. Doch auch hier versucht der libanesische Staat einzuschränken. Zwar können auch in Aarsal mittlerweile etwa 4.000 syrische Kinder die eigens eingerichtete Nachmittagschicht auf den öffentlichen Schulen besuchen, weit über 10.000 Kindern bleibt dieser Zugang aber versperrt, weil Plätze an diesen Schulen nicht bereitgestellt werden. Stattdessen gibt es syrische Schulen, die nach libanesischem Lehrplan unterrichten. Diese informellen Schulen sind häufig in Containern untergebracht und die syrischen Lehrer*innen unterrichten ehrenamtlich – ein anerkannter Abschluss kann hier nicht erworben werden. Selbst diese Einrichtungen der Eigeninitiative versucht der libanesische Staat nun aufzulösen. Mit Ende des aktuellen Schuljahres sollen alle diese Schulen geschlossen werden. Etwa 5.000 syrische Kinder wären in der Folge vom Zugang zu Bildung ausgeschlossen. Besonders schwierig ist es ohnehin jetzt schon für die Jugendlichen, da auch die syrischen Schulen vor allem die Grundbildung der Kinder bis zwölf Jahre abdecken. Die älteren Kinder und Jugendlichen haben kaum Zugang zu Schulbildung, was insbesondere bei den Mädchen, aufgrund der Perspektivlosigkeit, zu vermehrten Frühehen im Alter von 16 Jahren führt. Dies ist ein gewaltiger Rückschritt in der weiblichen Selbstbestimmung, da dies in Syrien vor dem Krieg nicht üblich war.
Wir Grünhelme befassen uns in Aarsal neben unserer Arbeit in der technischen Unterstützung verstärkt mit dem Thema Bildung. Seit eineinhalb Jahren finanzieren wir das Bildungszentrum unseres Partners SB Overseas (SBO), wo Kinder auf die Aufnahme in libanesischen Schulen vorbereitet werden. Außerdem haben wir zahlreiche der informellen syrischen Containerschulen mit Baumaßnahmen unterstützt, indem wir die undichten Dächer erneuert, zusätzliche Klassenräume und Spielplätze gebaut haben. Seit Oktober läuft auch der von uns betreute Ausbildungskurs für Tischler, in denen junge und ältere Syrer und Libanesen das Tischlerhandwerk erlernen, um später die erworbenen Fähigkeiten auf dem libanesischen Arbeitsmarkt einsetzen zu können oder ein Standbein nach einer Rückkehr nach Syrien mitbringen (mehr Informationen dazu hier).
Anfang des Jahres haben wir dann zum großen Wurf ausgeholt: Gemeinsam mit unserem zweiten Partner Edinburgh Direct Aid (EDA) haben wir ein Ausbildungszentrum aus dem Boden gestampft. In den vier neuen Schulungsräumen ist nun unsere Tischlerwerkstatt beheimatet, darüber hinaus finden dort fortan Kurse zur Schneiderinnenausbildung, Elektrotechnik und Handyreparatur statt. Bereits nach drei Wochen Bauzeit konnte die neue Einrichtung eröffnet werden.
Die Resignation vieler Geflüchteter ist greifbar, umso mehr seit der neuerlichen Assadschen Offensive in Idlib, die den Krieg endgültig zu seinen Gunsten entscheiden wird. Für die Geflüchteten im Libanon wird der Druck zu einer Rückkehr in die Hände des Peinigers zunehmen. Wir können nur weiterhin versuchen Solidarität zu üben und über Bildung und Ausbildung ein kleines Pflänzchen Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu säen.