Über eine Fähigkeit der Libanesen, aufzunehmen und doch gleich abzuwehren
Das Land Libanon ist das Land der unerträglichen Zweideutigkeiten. Einerseits ist der Libanon immer das Land, das kurz vor dem Zusammenbruch steht. Ein Land, das eigentlich in drei Teile mit nicht nur imaginären Grenzen und roten Linien zerfällt. Im Süden die Schiiten und die Hizbollah, die mit Israel halb und halb im Krieg steht und sich schlecht unterkriegen lässt. In der Mitte und besonders an der Küste das christlich-maronitische Land Libanon mit den Rio-ähnlichen Christus- und Marienstauen auf den Bergen. Und im Norden das Sunna-Land. Und dazwischen dann noch die Druzen, Ismaeliten und andere Minderheiten.
Das Land war aber immer auch ein ökonomisches Stehaufmännchen, das sich trotz größter Krisen, Katastrophen und Zerstörungen durch wütende Angriffe und Kriege nicht hat unterkriegen lassen. Immer wieder gibt es einen Bauboom, hat die Wirtschaft aufgrund des vielen überragenden Kapitals das Sagen, läuft trotz allem der arabische Tourismus. Das Land lebt eine selbstbewusste Haltung und zeigt dabei eine Stärke, die sich in einer latenten Abwehr der Flüchtlinge aus Syrien äußert. Wie alle gut organisierten Länder fürchtet man eine Millionen-Einwanderung der Flüchtlinge. Gegen diese setzt man die leisen, aber nicht immer unwirksamen Waffen der Bürokratie ein. Der UNHCR hat nichts zu sagen. Aber das ist ihm auch egal, denn er verwaltet die vielen Flüchtlinge nur – tut aber nichts für sie. Man versteht es, wie die deutsche Bundesrepublik, Abwehrmaßnahmen groß anzukündigen, die aber nicht greifen. So hat die Libanesische Regierung ihre Grenze geschlossen, um auf diese Weise Flüchtlinge abzuwehren. Man gibt den Flüchtlingen nichts, sie haben auf nichts Anspruch, dürfen sich nur „wild“ überall selbst unterbringen – was aber interessanterweise auf arabische Art und Brüderlichkeit fast besser funktioniert als bei uns.
Man gibt den Flüchtlingen nichts, aber sie kommen trotzdem. Sie leben entweder in angemieteten Häusern und Garagen wie im sunnitischen Mechmech, oder wie in der Nord-provinz des Libanon in 460 wilden Camps, die von zehn bis 80 Familien reichen. Eine sonntägliche Messe in der schönen Kathedrale von Afrik im maronitischen Ritus mit aramäischen Einsprengseln gibt uns das Gefühl, für die Stärke dieses katholischen Glaubens, weil ganz viele junge Leute dabei sind. Es wird herrlich laut und schön gesunden. Der westliche Gottesdienstbesucher muss lächeln über die verschiedenen Versuche in Europa, eine „Operation Jesus“ in Gang zu setzen, die alle Christen aus dem Nahen Osten nach Europa zu ihrem vermeintlichen Schutz herausholen soll. Das wäre das Ende des Christentums, denn damit würde es die eigenen Wurzeln verleugnen.
Wir erleben wie in der Türkei, wie in Jordanien, einen irrsinnigen Ansturm von Flüchtlingen. Es sollen mehr als 1,3 Mio. in einer Bevölkerung von 4,6 Mio. Libanesen sein. Es sind zu viele Syrer; und viele Libanesen haben Angst, dass Assad und die IS im Anzug sind und den wohlhabenden und liebenswerten Libanon zerstören könnten. Aber gegenwärtig gibt es keine Clashes zwischen den verschiedenen Syrer Denominationen, auch in Tripoli nicht, der Stadt, in denen es zwischen der alawitischen Gemeinde und den anderen oft ganz heftig gekracht hat, auch mit Waffen. Trotz der Entbehrungen dürfen die Flüchtlinge unter den Libanesen leben.
Es gibt drei Kategorien von Flüchtlingen aus Syrien. Das sind erstens, neuerdings, die urbanen Flüchtlingen, die jetzt auch die großen Städte verlassen, weil ihnen die Häusern und ihr Besitz gestohlen, weggenommen und zerstört werden. Diese urbanen Flüchtlinge haben z. T. noch Geld, um eine Unterkunft selbst bezahlen zu können. Zweitens gibt es viele Wanderarbeiter, die es immer gegeben hat, aber die jetzt sehr viel stärker geworden sind, die jede Arbeit – auch die schlechteste – annehmen, um etwas für sich und ihre Familie zu verdienen. Es gibt dann die drittens Gruppe, die Beduinenflüchtlinge aus Syrien. Es sind halbe Nomaden, die aber immer weniger Nomaden sind, weshalb sie eben auch zu den Flüchtlingen gezählt werden. Das heißt: gezählt im Libanon schon lange nicht mehr. Man rechnet, dass die erste Gruppe 30 Prozent ausmacht, die zweite 20, die dritte 50 Prozent.
Nein, im Libanon wird schon lange nicht mehr gezählt. Zählen ist gefährlich, weil es das labile Staatsgebilde durcheinander bringt. Das ist dürfte auch der Grund dafür sein, warum die Christen-Maroniten im Libanon offiziell noch immer 50 Prozent ausmachen, die es vielleicht bei Staatsgründung waren, dies heute aber schon lange nicht sind, Sunniten 30 Prozent, die heute mehr beanspruchen dürften, und 20 Prozent Schiiten, die auch mehr geworden sind. Es sieht niemand eine Notwendigkeit, die Zahlen zu korrigieren, aber bleibt nominell der Staatspräsident ein Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Die Gemeinschaften leben weiterhin nebeneinander statt miteinander. Einzig der Flughafen ins Ausland sei ein Platz, sagt ein Witzbold, wo sich alle Ethnien und Religionen der Libanesen treffen.
Die Libanesen leben weiter unter dem Alptraum der Enklave der Palästinenser im Lande, die immer größer und gewalttätiger wurde. Sie möchten etwas Ähnliches in der Zukunft mit den Syrern vermeiden. Das kann man verstehen, das führt auch zu Einschränkungen, die heftig sind. So hat die Regierung beschlossen, dass der Unterricht für Flüchtlingskinder der Syrer in den wilden Lagern nur zwei Stunden dauern soll. Deshalb hat eine internationale Organisation mit Deutschen, Italienern und Belgiern, Franzosen es übernommen, eine richtige, große Schule in der Nähe von 16 wilden Camps zu organisieren, die ganz einfach ist und bis zu 400 Schulkinder aufnehmen kann – die hier spielen und leben können.
Es sind zwölf syrische und zwei libanesische Lehrer sowie ein Direktor, die von der Organisation mit 500 US-Dollar bezahlt werden. Die Organisation heißt Relief and Reconciliation International (R & R) das Zentrum heißt „al Ihsan Educational Centre“. Hier wurden eine Schule mit 14 Klassenzimmern in Baracken und einem großem Lehrerzimmer, einem Spielplatz und einem Schulhof eingerichtet. Das R & R feiert das Ende des Schuljahres am 9. Juni 2015 mit einem großen Fest, das ist es, was Flüchtlinge und vor allem die Flüchtlingskinder besonders brauchen. Von den 460 wilden Camps, die es hier in verschiedener Größe von zehn bis 80 Familien gibt, können nur 27 Camps von dieser Schule profitieren. Deshalb gibt es hier für die Grünhelme eine gute Möglichkeit, noch etwas zu tun, für die nächsten 40 Lager – zumindest solange es sie noch gibt, denn keiner gibt die Hoffnung auf, dass es bald wieder ein Syrien gibt, in dem die Menschen leben und möglichst frei atmen und arbeiten können.